Erhöhen lange Online-Assessments das Abbruchrisiko bei Bewerbungen?

Immer mehr Unternehmen und Behörden integrieren Online-Assessments in ihre Bewerbungsprozesse. Diese bestehen meist aus Fragebögen zu Persönlichkeit und Interessen sowie aus Tests zur Messung verschiedener Kompetenzen, wie z.B. analytisches Denken, Sprachkenntnisse oder Fachwissen.

Gleichzeitig nimmt die Candidate Experience einen immer größeren Stellenwert im Bewerbungsprozess ein. Unternehmen haben erkannt, dass nicht nur Bewerber um begehrte Stellen, sondern auch Unternehmen um begehrte Bewerber konkurrieren. Um die Bewerbungshürde möglichst niedrig zu setzen, versuchen Unternehmen, ihre Bewerbungsprozesse so schnell und einfach wie möglich zu gestalten – Stichwort: One-Click-Bewerbung.

Für Online-Assessments bedeutet das: So kurz wie möglich, so lang wie nötig. Personaler haben häufig Sorge, dass Bewerber den Bewerbungsprozess abbrechen, weil sie keine Lust auf lange und zeitraubende Assessments haben. In Ratgebern liest man daher häufig, dass Assessments nicht länger als 20 bis 30 Minuten dauern sollten. Gleichzeitig ist aber bekannt, dass kürzere Verfahren schlechtere Gütekriterien (Reliabilität und Validität) aufweisen als längere. Außerdem lassen sich in geringerer Zeit natürlich weniger relevante Informationen von den Bewerbern einholen.

Personaler stehen nun vor einem Dilemma: Entscheiden sie sich für ein ausführliches Assessment, erhalten sie zwar mehr und bessere Informationen, dafür könnten jedoch potentiell geeignete Kandidaten abgeschreckt werden. Bei einem kurzen Assessment sollte zwar die Zahl der Bewerbungen höher ausfallen, Menge und Qualität der erhobenen Informationen jedoch schlechter sein. Um hier praktische Handlungsempfehlungen geben zu können, müsste zunächst geklärt werden, wie stark der Zusammenhang zwischen Dauer und Abbruchquote von Online-Assessments tatsächlich ist. Evidenz zu dieser Annahme ist nämlich meist anekdotisch und basiert selten auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Eine neue Studie im Journal of Applied Psychology schafft hier Abhilfe.

Die Forschergruppe um Hardy III von der Oregon State University untersuchte in ihrer Studie mehr als 200.000 Online-Assessments bei insgesamt 29 Firmen aus 14 Branchen. Von Interesse war in erster Linie die Zeit, die die Bewerber im Online-Assessment verbracht hatten. Alle Assessments enthielten eine realistische Stellenbeschreibung und drei bis acht weitere Bestandteile, wie z.B. kognitive Leistungstests, Persönlichkeitsfragebögen, Fachwissenstests und biographische Fragebögen. Die Daten werteten die Forscher mit einer sog. Survival-Analyse aus. Diese Methode erlaubt es, das Abbruch-Risiko in Abhängigkeit der im Assessment verbrachten Zeit abzuschätzen.

Sinkendes Abbruchrisiko

Entgegen der häufigen Annahme, dass das Abbruch-Risiko mit der Dauer des Assessments steigt, zeigen die Daten das genaue Gegenteil: Mehr als die Hälfte aller Abbrüche passieren in den ersten 20 Minuten des Assessments; danach wird die Abbruchrate immer geringer. Um die Robustheit dieses Befundes zu untersuchen, führten die Forscher die Analyse für verschiedene Variablen getrennt durch. Ergebnis: Der Befund zeigt sich in allen Branchen und unabhängig von den Testinhalten, der Bezahlung der Stelle und dem Prestige des Unternehmens.

Online-Assessment Abbruchrisiko

Bewerber brechen Online-Assessments also eher am Anfang ab als am Ende. Die Länge spielt dabei kaum eine Rolle. Aber wieso? Die Forschergruppe hat verschiedene Erklärungen für diesen Befund. Erstens haben Bewerber im späteren Verlauf des Assessments bereits viel Zeit und Energie in die Beantwortung der Fragen investiert. Bei einem späten Abbruch wäre die ganze Mühe umsonst gewesen. Zweitens ist häufig zu beobachten, dass die Motivation kurz vor Erreichen eines Ziels ansteigt, was auch als „Goal Looms Larger“-Effekt bezeichnet wird. Drittens vermuten die Forscher, dass die Länge des Assessments eine Signalwirkung für Bewerber hat: Sie deutet darauf hin, dass das Unternehmen seine Mitarbeiter sorgfältig auswählt und die Stelle nicht leicht zu haben ist. Dadurch erscheinen das Unternehmen und die Stelle in einem positiveren Licht, so dass Bewerber eher bereit sind, das lange Assessment auch zu Ende zu führen.

Collectively, these findings support recommendations that the reliability and validity of assessment scores should be the primary drivers of assessment length, not concerns about applicant attrition rates.

Die Forscher gingen anschließend noch einer weiteren Frage nach: Wenn die tatsächliche Bearbeitungszeit das Abbruch-Risiko nicht erhöht, dann vielleicht die im Vorfeld angekündigte Dauer? In der Regel werden die Teilnehmer bereits in der Einladungsmail oder auf den ersten Seiten des Assessments über die ungefähre Dauer des Verfahrens informiert, damit sie genügend Zeit für die Bearbeitung einplanen können. Werden Bewerber vielleicht schon an dieser Stelle durch lange Bearbeitungszeiten abgeschreckt, so dass sie das Assessment gar nicht erst beginnen?

Auch diese Hypothese bestätigte sich nicht. Längere Bearbeitungszeiten hatten keine negativen Auswirkungen auf die Teilnahmebereitschaft der Bewerber. Im Gegenteil: Konservativere, also tendenziell höhere Schätzungen der Bearbeitungsdauer reduzierten die Abbruchwahrscheinlichkeit sogar. Es kommt also nicht auf die tatsächliche Dauer des Assessments an, sondern darauf, den Teilnehmern möglichst ehrliche Informationen über die Dauer zu geben.

Was bedeutet das für die Praxis?

Die Ergebnisse lassen zwei praktische Schlussfolgerungen zu: Zum einen sollte die Zusammensetzung von Testverfahren und Fragebögen vorrangig mit Blick auf Testgütekriterien und inhaltliche Breite erfolgen. Eine Verkürzung der Verfahren, um Abbrüche zu vemeiden, ist wenig zielführend und wird der Qualität der Personalauswahl eher schaden als nutzen. Zum anderen ist es empfehlenswert, die geschätzte Bearbeitungszeit lieber etwas großzügiger anzugeben, da sich hierdurch die Abbruchrate reduzieren lässt. Insgesamt scheint die Angst vor hohen Abbruchraten durch lange Online-Assessments unbegründet zu sein.


Hardy, J. H., Gibson, C., Sloan, M., & Carr, A. (2017). Are applicants more likely to quit longer assessments? Examining the effect of assessment length on applicant attrition behavior. Journal of Applied Psychology, 102, 1148-1158. doi: 10.1037/apl0000213

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